Kurzeinführung:
(jap. 空手, dt. „leere Hand“) ist eine Kampfkunst, deren Geschichte sich sicher bis ins Okinawa des 19. Jahrhunderts zurückverfolgen lässt, wo einheimische okinawanische Traditionen (Ti) mit chinesischen (Shàolín Quánfǎ) Einflüssen zum Tōde verschmolzen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts fand dieses seinen Weg nach Japan und wurde nach dem Zweiten Weltkrieg von dort als Karate über die ganze Welt verbreitet.
Inhaltlich wird Karate vor allem durch Schlag-, Stoß-, Tritt- und Blocktechniken sowie Fußfegetechniken als Kern des Trainings charakterisiert. Hebel und Würfe werden in einigen Stilrichtungen ebenfalls gelehrt, im fortgeschrittenen Training werden auch Würgegriffe und Nervenpunkttechniken geübt.
Ein wesendlicher Betsandteil des Trainings wird auf die körperliche Kondition gelegt, die heutzutage insbesondere Beweglichkeit, Schnellkraft und anaerobe Belastbarkeit zum Ziel hat. Die Abhärtung der Gliedmaßen u. a. mit dem Ziel des Bruchtests (jap. Tameshiwari), also des Zerschlagens von Brettern oder Ziegeln, ist heute weniger populär, wird aber von Einzelnen Stilrichtungen immer noch betrieben.
Ursprung
Die ersten dokumentierten Kampfstile, die sowohl Hand- als auch Fusstechniken aufweisen, sind ca. 6000 Jahre alt und stammen von den Assyrern. Seit jeher haben die Menschen eine Affinität zum Kampf und zum sich miteinander messen. Aber nicht nur bei den Menschen ist es so. Die Natur generell ist auf Konkurrenzkampf und Wettbewerb ausgerichtet. Nur auf diese Weise hat sie sich so weit entwickeln können und entwickelt sich stets weiter.
Aus diesem Grunde sind wir Menschen – wie allen anderen Lebewesen auf unserem Planeten auch – grundsätzlich kriegerische und kämpferische Wesen. Deshalb kann man davon ausgehen, dass Kampftechniken seit Menschengedenken in allen Teilen der Welt, wo Menschen lebten individuell und unabhängig voneinander entwickelt und geübt wurden. Und so wie sich die Menschen grundsätzlich gleichen, so gleichen sich auch diese Kampftechniken und Kampfstile.
Weitere geschichtliche Dokumente gehen auf die Zeiten der Altägypter (2000 v. Chr.), der Griechen (700 v. Chr.) und der Römer zurück.
Die älteste bisher gefundene Überlieferung einer Kampf-„Kunst“ stammt aus China, wurde Xiangpu genannt und stammt aus dem 13. Jahrhundert vor Christus. Vajramushti, eine indische Kampfkunst, wurde erstmals ca. 100 Jahre v. Chr. dokumentiert und der erste festgehaltene japanische Sumo-Kampf stammt aus dem Jahre 23 vor Christus.
Auch wenn keine schriftlichen Beweisstücke vorliegen, wurden bestimmt in allen Gebieten, wo Menschen lebten bereits vor Jahrhunderten und gar Jahrtausenden Kampftechniken entwickelt und geübt.
Kampftechniken entwickelten sich weiter zu Kampfstilen und schliesslich zu Kampfkünsten. Diese wurden von überall her nach überall hin „exportiert“.
Zum Beispiel durch Tschingis Khan oder Hannibal von Asien nach Westeuropa, oder durch die Römer, Alexander den Grossen, Marco Polo und – in neueren Zeiten – die Europäer von Europa nach Asien, Afrika und Amerika. So geschah es denn auch, dass Kampfkünste durch Ausund Zuwanderung, von China nach Indien und umgekehrt, von China nach Japan oder Korea und wiederum umgekehrt usw., getragen wurden. Durch vermischen der Kampfkünste, beziehungsweise dadurch, dass die sich als die effektivsten und effizientesten erweisenden Kampftechniken in bestehende Kampfstile und Kampfkünste integriert wurden, und durch Einbezug unterschiedlicher Philosophien, Ansichten und Interpretationen, entwickelten sich heute bekannte Kampfsporte wie Boxen und Ringen und Kampfkünste wie Karate Do, Kung- Fu, Judo, Capoeira, Jiu-Jitsu, Aikido, Teakwondo usw.
Bodhidharma (470-543)
Bodhidharma wurde am 5. Oktober 470 als 3. Sohn König Sughandas von der Kshatriya-Kaste in Südindien geboren. Wie für die damaligen Königssöhne üblich, wurde auch Bodhidharma in allen höfischen Sitten und Vajramushti, der indischen Kampfkunst, unterrichtet. In Südindien werden die alten Kampfsporttechniken auch heute noch unterrichtet und zum Teil bei orthopädischen Problemen im Ayurveda eingesetzt.
Schon früh fühlte sich Bodhidharma zum Buddhismus hingezogen und fand in Prajnatara, dem 27. Nachfolger von Buddha, einen Meister, der ihn Buddhismus und Yoga lehrte. Es war der Wunsch seines Meisters, dass er die Lehren des Buddhas nach China bringen sollte. Nach dem Tode seines Meisters wurde er der 28. Patriarch nach dem Shakyamuni, dem historischen Buddha. Von da an nahm er den Namen Bodhidharma an. 526, im Alter von 56 Jahren, reiste Bodhidharma (Tamo, Daruma oder Darumi Taishi auf Japanisch,
Dat Mor auf Kantonesisch, Puti Da Mo auf Mandarin) über Tibet nach China, um den Wunsch seines Meisters zu erfüllen. Als erstes besuchte er Kaiser Wu Di von der Liang Dynastie. Der Kaiser hatte grosses Interesse am Buddhismus, doch für Da Mo war das Interesse des Kaisers am Buddhismus zu oberflächlich, so dass er den Kaiserpalast nach kurzer Zeit wieder verliess.
Da Mo, wie Bodhidharma in China genannt wurde, reiste weiter und erreichte schliesslich das Shaolin Kloster in der nördlichen Ho Nan Provinz. Die Mönche verwehrten ihm jedoch den Zutritt, da sie Fremde grundsätzlich nicht aufnahmen. Da Mo suchte sich in der Nähe eine Höhle, wo er lebte und die Mauern des Klosters beobachtete. Das Kloster war zu damaligen Zeiten oft Opfer von Raubüberf.llen. Eines Morgens, als die Mönche, die sich in der Nacht in ihrem Kloster verbarrikadiert hatten, von den Zinnen ihres Klosters hinunterschauten, sahen sie lauter tote Räuber vor ihrem Kloster liegen. Sie baten Bodhidharma darauf, in ihr Kloster zu kommen und machten ihn später zu ihren Patriarchen. Bodhidharma gilt als der Begründer des Ch'an (Zen) Buddhismus. Die Mönche hatten zwar Meditationsübungen trainiert, ihr körperlicher Zustand aber war in Da Mo’s Augen mehr als jämmerlich. So lehrte er sie altindische Kampfkunst, um sie gegen die Strapazen der Meditationen besser zu wappnen.
Dass sich daraus aber Kung-Fu und Karate Do entwickelt haben soll, ist doch sehr zu bezweifeln. Denn, wie bereits erwähnt, stammt die älteste dokumentierte Kampfkunst, Xiangpu, aus China und ist über 3000 Jahre alt. Auch dass Wandermönche im 7. Jahrhundert Kung- Fu (Quanfa) nach Okinawa gebracht und dort gelehrt haben sollen, mag wohl stimmen. Zweifellos aber wurden auch dort bereits Kampfkünste geübt und durch gewisse Quanfa- Techniken ergänzt, woraus sich schliesslich die okinawanische Kampfkunst Te und später Tode, was soviel wie Hand aus China heisst, entwickelte.
Bodhidharma starb im Jahre 543 im Alter von 73 Jahren und wurde in der Nähe des Shaolin Klosters in Shon Er Shan, am „Berg des Bärenohrs“, begraben,
Kushanku (?-1790) und Shungo (Tode) Sakugawa (1733-1815)
Im Laufe der Zeit wurde Tode immer weiter entwickelt. So zum Beispiel auch durch den chinesischen Mönch Kushanku, der 1760 anlässlich einer Pilgerreise nach Okinawa kam, sich dort niederliess, Quanfa unterrichtete und schon bald der Lehrer von Shungo (Tode) Sakugawa wurde. Unter der Anleitung von Kushanku, Kreator und Namensgeber einer heute immer noch rege geübten Karate-Kata, aus der die beiden Shotokan- Katas Kanku-Dai und Kanku-Sho hervorgingen, entwickelte Shungo (Tode) Sakugawa aus dem Tode schliesslich das Okinawa-Te (Hand aus Okinawa) und lehrte diese Kampfkunst auf ganz Okinawa.
Sokon (Bushi) Matsumura (1797-1889)
Der bedeutendste Schüler von Shungo (Tode) Sakugawa, Sokon (Bushi) Matsumura, entwickelte im frühen 18. Jh. die Stilrichtung Shorin-Ryu bzw. das Shuri-Te in der früheren Hauptstadt und heutigen Provinzstadt Shuri. Seine Schule war die bedeutendste auf ganz Okinawa und fast alle wichtigen Meister der kommenden Generation sind auf seine Schule zurückzuführen. Erst etwa dreissig Jahre später entwickelte Kosaku Matsumora in der Provinzstadt Tomari aus dem Shuri-Te von Sokon (Bushi) Matsumura das Tomari-Te und weitere zwanzig Jahre später Kanryo Higaonna (auch Higashionna oder Higanuma genannt) in der okinawanischen Hauptstadt
Naha die Stilrichtung Shorei-Ryu und das Naha-Te. Sowohl Kosaku Matsumora als auch Kanryo Higaonna waren Schüler von Sokon (Bushi) Matsumura. Grundsätzlich kann also gesagt werden, dass Sokon (Bushi) Matsumura der eigentliche Urvater des Okinawa Karate ist. Es sind ihm auch die Überlieferung bzw. zumindest die teilweise Entwicklung folgender Katas zu verdanken: Tekki, Patsai (Bassai), Kushanku (Kanku), Jion, Hangetsu, Wankan, Chinte und Gankaku. Diese Katas wurden später hauptsächlich von seinen Schülern Anko Azato und Yasutsune Itosu sowie deren Schüler Gichin (Shoto)
Funakoshi und dem Sohn Funakoshis, Gigo (Yoshitaka) Funakoshi – auch Waka Sensei genannt – zur definitiven und heute immer noch gültigen Form weiterentwickelt. Aus dem Shuri-Te von Sokon (Bushi) Matsumura gingen schliesslich die Stile Shotokan-Ryu,Shito-Ryu, Kyokushin-Ryu, Wado-Ryu, aus dem Tomari-Te das heute kaum mehr bekannte Isshin-Ryu und aus dem Naha-Te das Goju-Ryu hervor.
Anko Azato (1827-1906) und Yasutsune Itosu (1830-1915)
Schüler von Sokon (Bushi) Matsumura waren unter vielen anderen Anko Azato und Yasutsune Itosu, die Lehrer von Gichin (Shoto) Funakoshi, dem Vater des Shotokan Karate Do. Zu Beginn des 20. Jh. tauften Anko Azato und Yasutsune Itosu den Namen Okinawa- Te in Kara-Te um, was soviel heisst wie leere (Te) Hand (Kara), also die Kunst der leeren Hand, der Kampf mit leeren Händen, ohne Waffen. Es gibt aber noch den philosophischen Aspekt der Kampfkunst Karate, den Kushanku seinem Schüler Shungo (Tode) Sakugawa, dieser seinem Schüler Sokon (Bushi) Matsumura und dieser wiederum seinen Schülern weitergab. Nämlich jenen Sinn der Leere, dass man sich freimacht von allen egoistischen und selbstsüchtigen Gedanken, dass man bescheiden und mutig seine Lebensziele verfolgt. Deshalb beschränkt sich Karate Do nicht auf das Training, fängt zu Beginn des Trainings an und hört mit dessen Ende auf. Karate Do ist vielmehr eine Lebensaufgabe. Alle Aspekte des Karate Do, seien sie physischer, geistiger oder philosophischer Natur, sollen während des ganzen Lebens geübt und nicht trainiert werden. So ist etwa auch der Kampf gegen sich selbst, das stete Überwinden des eigenen Ichs, ein weitaus schwieriger Kampf als der Kampf gegen irgendwelche Gegner.
Das Selbst, das Ego, ist der härteste Gegner. Gerade dieser ideologische Ansatz verunmöglicht eine Vereinbarung mit dem modernen Sport- oder Wettkampf Karate, dies ist der grundsätzliche Unterschied zwischen Karate Do und Karate. Aber darauf komme ich später zurück.
Yasutsune Itosu war der „äussere“ Schüler von Sokon (Bushi) Matsumura, der technisch hochbegabte Schüler, während Anko Azato der „innere“ Schüler war, technisch zwar auch begabt, aber mit mehr Hang zu den geistigen und philosophischen Aspekten des Karate Do. Yasutsune Itosu ist es auch zu verdanken, dass 1905 Karate in den Schulunterricht Okinawas eingeführt wurde. Anko Azato hingegen war der weitaus strengere Lehrer und legte ungemein viel Wert auf die Einhaltung des Do, des Kodex, von Ehre, Anstand und Respekt. Er war es auch der das Dojokun, die Verhaltensregeln, verfasste, die an sich die Seele des Karate
Do verkörpern und folgende fünf Regeln umfassen:
Dojokun
1. Hitotsu! Jin kaku kansei ni tsutomeru koto! „Beachte! Bemühe Dich stets Deinen Charakter zu vervollkommnen!“ Diese Regel bezieht sich auf das Verhältnis des Menschen zu sich selbst.
2. Hitotsu! Makoto no michi o mamoru koto! „ Beachte! Bewahre den Geist der Aufrichtigkeit!“ Diese Regel bezieht sich auf das Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt.
3. Hitotsu! Doryoku no seishin o yashinau koto! „ Beachte! Übe mit Ausdauer, damit Du Deine Ziele erreichst!“ Diese Regel bezieht sich auf die Verwirklichung des Menschen in seinen persönlichen Lebenszielen.
4. Hitotsu! Regi o omunzuru koto! „ Beachte! Ehre die Prinzipien der Etikette!“ Diese Regel bezieht sich auf die Verhaltensformen die ein Mensch beachten sollte, wenn er von seiner Umwelt verstanden und akzeptiert werden will.
5. Hitotsu! Kekki no yû o imashimuro koto! „ Beachte! Verzichte auf Gewalt!“ Diese Regel bezieht sich auf die innere Haltung des Menschen zu konfliktfreiem, gewaltlosem, pazifistischem Verhalten.
Anko Azato und Yasutsune Itosu entwickelten die ihnen von ihrem Lehrer Sokon (Bushi) Matsumura übermittelten Katas Tekki, Passai (Bassai), Kushanku (Kanku), Jion, Hangetsu, Wankan, Chinte und Gankaku gemeinsam weiter und kreierten daraus die Katas Tekki Nidan und Tekki Sandan, Bassai-Dai und Bassai-Sho, Kanku-Dai und Kanku-Sho sowie Ji’in und Jitte. Die fünf Heian-Katas sowie die Katas Meikyo, Gojushiho-Sho und Gojushiho-Dai hingegen sind alleine Yasutsune Itosu sind zu verdanken.
In der Folge entwickelten viele Meister eigene Stile, die sich durch unterschiedliche philosophische Ansichten und Interpretationen von Kampftechniken voneinander unterschieden:
• Gichin (Shoto) Funakoshi entwickelte das Shotokan-Ryu;
• Chojun Miyagi das Goju-Ryu;
• Hironori Otsuka das Wado-Ryu;
• Kenwa Mabuni das Shito-Ryu.
Die Katas Empi, Unsu, Nijushiho und Sochin stammen aus dem Tomari-Te. Die Kata Empi erlernte Kosaku Matsumora von einem chinesischen Shaolin-Mönch namens Wanshu und gab sie, wie die von ihm selbst entwickelten Katas Unsu, Nijushiho und Sochin, weiter an seine Schüler Chotoku Kyan, Choki Motobu und Ankichi Aragaki. Insbesondere Ankichi Aragaki entwickelte die Katas weiter. Kenwa Mabuni, Begründer des Shito-Ryu, war nicht nur Schüler von Anko Azato und Yasutsune Itosu, sondern auch von Ankichi Aragaki und massgeblich an der Weiterentwicklung der Katas Empi, Unsu und Nijushiho beteiligt. Den letzten Schliff zur definitiven Form die heute geübt wird, erhielten diese Katas allerdings auch von Yoshitaka Funakoshi, in der Folge Gigo Funakoshi genannt.
Gichin (Shoto) Funakoshi (1869-1957)
Gichin Funakoshi, der Vater und Begründer des modernen Karate, wurde 1869 auf Okinawa als einziger Sohn einer einfachen Samurai-Familie geboren. Sein Vater war ein Meister im Kampf mit dem okinawanischen Stock (Kon). Seine Kindheit verbrachte er bei seinem Grossvater, einem bekannten konfuzianischen Gelehrten, Philosophen und Mönch. Von ihm lernte er vieles über konfuzianische und buddhistische Philosophie.
Schon als junger Teenager begann er bei Meister Anko Azato mit dem Unterricht in Karate Do. Anko Azato und Yasutsune Itosu waren überaus strenge Lehrer und für den jungen Gichin war es eine sehr harte Zeit. Zudem war Karate damals noch verboten und musste im geheimen und nachts geübt werden. Funakoshi bildete sich zum Schullehrer aus und arbeitete zunächst als Hilfslehrer
in Shuri und später als Hauptlehrer in Naha. Jeden Tag aber übte er Karate Do bei seinen Lehrern Anko Azato und Yasutsune Itosu und wurde schliesslich selber zu einem Meister. Noch zu Lebzeiten seiner beiden Lehrer lehrte er Karate Do sowohl in Schulen in Shuri als auch in Naha und erlangte bald einen ausgezeichneten Ruf. Als Spätvierziger schliesslich hängte er seinen Schullehrerberuf an den Nagel und widmete sich ausschliesslich dem Karate Do.
Als der damalige japanische Thronfolger, der spätere Kaiser Hirohito, auf Okinawa eine Karate- Vorführung erlebte und in Tokio davon berichtete, berief das japanische Schulministerium schliesslich Gichin Funakoshi 1922 nach Japan, damit er seine Kunst vor Autoritäten auf dem Gebiet der Kampfkünste und des Schulwesens demonstriere. In der Folge wurde Karate Do experimentell in die Ausbildung aufgenommen, beispielsweise an der Keio-Universität in Tokio, wo das erste Dojo (Saal für Meditation und Übungen in den Kampfkünsten) entstand. Unter dem Einfluss Gichin Funakoshis folgten weitere Universitäten dem Beispiel, unter anderen auch die Takushoku-Universität.
Bereits vor dem zweiten Weltkrieg wurde die Weltöffentlichkeit auf die Kampfkunst Karate aufmerksam und begann sich daran zu interessieren. Nun brauchte man jemanden, der die Botschaft des Karate in die Welt hinausbrachte. Als überaus intelligenter und gebildeter Mann, Meister der Kalligrafie und der Dichtkunst, rhetorisch, didaktisch und kulturell hervorragend ausgebildet und ausserordentlich gewandt, war Gichin Funakoshi dafür geradezu prädestiniert.
Er verstand es auch sehr gut das immense technische Wissen, das er von Meister Yasutsune Itosu erhalten hatte, mit den traditionellen und strengen Ansichten von Meister Anko Azato zu verbinden. Trotz allen modernen und fortschrittlichen Ideen und Ansichten vieler Meister und Schüler des Karate Do, blieb Gichin Funakoshi seinen tief traditionellen Ansichten treu. 1935 erschien sein Buch Karate Do-Kyohan, schlicht das Lehrbuch über Shotokan Karate Do. Ein Jahr später eröffnete Gichin Funakoshi die erste Karate Do Schule in Tokio. Aus dieser Schule, die bis in höchste Kreise einen hervorragenden Ruf genoss, kamen schliesslich Funakoshis beste Schüler hervor: Takeshi Shimoda, Shigeru Egami, Genshin Hironishi und Gigo Funakoshi, Gichin Funakoshis dritter Sohn. Es ist übrigens einer Anregung Jigoro Kanos, dem Begründer des Judo, mit dem Gichin Funakoshi eine tiefe Freundschaft verband, zu verdanken, dass schliesslich auch im Karate Do Kyu- und Dan-Grade eingeführt wurden.
Gichin Funakoshi ergänzte auch das Dojokun seines Lehrers Anko Azato durch zwanzig eigeneGrundsätze:
1. Karate Do wa rei ni hajimari, rei ni owaru koto o wasuruna! „Karate beginnt und endet mitRespekt!“
2. Karate ni sente nashi! „Karate kennt keinen Angriff!“ Dieser Grundsatz wird auch dadurch versinnbildlicht, dass jede Kata mit einer Verteidigungstechnik beginnt.
3. Karate wa gi no tasuke! „Karate unterstützt die Gerechtigkeit!“
4. Mazu jiko wo shire, shikoshite tao wa shire! „Erkenne dich selbst zuerst, und erst dann andere!“
5. Gijutsu yoi shinjutsu! „Intuition ist wichtiger als reine Technik!“
6. Kokoro wa hanatan koto wo yosu! „Lass deinen Geist gehen, indem du ihn befreist!“
7. Wazawai wa getai ni shozu! „Unglück geschieht stets aus Nachlässigkeit!“
8. Dojos no mino karate to omou na! „Denke nicht, dass Karate nur im Dojo stattfindet!“
9. Karate no shugyo wa issho de aru! „Die Ausübung des Karate ist eine Lebensaufgabe ohne Begrenzung!“
10. Arai-yuru mono wo karateka seyo, soko ni myomi ari! „Verbinde alles was du tust mit Karate, dann wirst du Myo (die geistige Kraft die einem jeden den Zauber, die Mystik und das Wunderschöne des Lebens offenbart) finden!“
11. Karate wa yu no goto shi taezu netsudo wo ataezareba moto no mizu ni kaeru! „Wahres Karate ist wie heisses Wasser, das abkühlt, wenn Du es nicht beständig wärmst!“
12. Katsu kangae wa motsu na makenu kangae wa hitsuyo! „Denke nicht ans Gewinnen, doch denke darüber nach, wie Du nicht verlierst!“
13. Tekki ni yotte tenka seyo! „Verändere deine Verteidigung deinem Feind gegenüber!“
14. Tattakai wa kyo-jitsu no soju ikan ni ari! „Ein Kampf verläuft immer so, wie du Kyo (Körper und Geist ungeschützt) und Jitsu (Körper und Geist geschützt) einsetzt!“
15. Hito no te ashi wo ken to omoe! „Stelle Dir vor, Deine Hände und Deine Füsse seien Waffen!“
16. Danshi mon wo izureba hyakuman no tekki ari! „Wenn du dein Zuhause verlässt, machst du dir viele Feinde; ein solches Verhalten bringt dir Ärger ein!“
17. Kamae wa shoshinsha ni ato wa shizentai! „Anfänger müssen alle Stellungen meistern bevor sie sie beurteilen; nur so können sie eins mit ihnen werden!“
18. Kata wa tadashiku jissen wa betsu mono! „ Kata muss korrekt und ohne Änderungen geübt werden, dies wirkt sich auch im Kampf aus!“
19. Chikara no kyojaku; Karada no shinshuku; Waza no kankyo wo wasaruna! „Hart und weich, Spannung und Entspannung, langsam und schnell – alles verbunden mit der richtigen Atmung!“
20. Tsune ni shinen kufu seyo! „Denke immer an Kufu (die Regeln), lebe und befolge sie jeden Tag!“
Zusammen mit seinen Schülern erbaute Gichin Funakoshi in Tokio das berühmte Dojo-Gebäude, das erste Honbu Dojo (Hauptschule) des modernen Karate Do, das den Namen Shoto-Kan (Haus des Shoto) erhielt. Sein Übername Shoto, was übrigens Kiefernwellen bedeutet, kommt daher, dass er seine Gedichte jeweils mit Shoto signierte, weshalb ihm seine Schüler schliesslich diesen Übernamen gaben. Nach seinem Tod nannten einige seiner Schüler den gesamten Stil so, obgleich Gichin Funakoshi selbst diese Bestrebungen nicht unterstützte, da er sich nicht als Begründer eines Stils betrachtete, sondern grundsätzlich von einem einheitlichen Karate Do ausging. Von diversen Schülern und Meistern des Karate aber wurde die Forderung nach Wettkämpfen immer lauter. So ging Gichin Funakoshi schliesslich Kompromisse ein und liess zum Beispiel zu, dass sein Sohn Gigo Funakoshi die Zweikampf-Formen Gohon-Kumite (5-Schritt-Kampfform), Sanbon-Kumite (3-Schritt-Kampfform)und Ippon-Kumite (1-Schritt-Kampfform) einführte.
Nach dem Ende des zweiten Weltkrieges aber trat der sportliche Aspekt des Karate vermehrt in den Vordergrund und vielen Meistern genügten diese Kampfübungen nicht mehr. Schliesslich gründeten die Meister Isao Obata, Masatoshi Nakayama und Hidetaka Nishiyama 1949 die Japan Karate Association (JKA), um Karate als Wettkampfsport weltweit zu verbreiten. Obwohl Gichin Funakoshi mit der JKA und dieser neuen Ausrichtung des Karate nichts zu tun haben wollte, benutzte ihn die JKA als Aushängeschild. Einige Schüler aber blieben den Ansichten Gichin Funakoshis und der traditionellen Philosophie des Karate Do treu. Allen voran war dies sein Sohn Gigo Funakoshi, der zusammen mit Takeshi Shimoda die Karate- Techniken und die ihm überlieferten Katas weiter verfeinerte, tiefere und stärkere Stellungeneinführte und neue Katas entwickelte.
Es trennten sich aber auch weitere Schüler von Gichin Funakoshi. Nicht weil er die „Modernisierung“ des Karate – sprich den Wettkampfsport – nicht vorantrieb, sondern, im Gegenteil,weil er Kompromisse einging und an der ursprünglichen Tradition nicht unbeirrt festhielt: Shigeru Egami gründete die Shoto Kai Organisation, die das traditionelle Karate Do – eine Kampfkunst ohne Wettkampf – versinnbildlicht und die Gedanken der Verträglichkeit und der Toleranz vertritt, die Funakoshis ursprünglicher Weltanschauung entsprechen.
Hironori Otsuka schlug die Wado-Ryu Richtung ein und Kenwa Mabuni schuf die Shito-Ryu Organisation. In etwa auch zu dieser Zeit entwickelte Chojun Miyagi, Schüler von Kanryo Higaonna und Lehrer von Gogen Yamaguchi (genannt die Katze), das Goju-Ryu. Sein Nachfolger Gogen Yamaguchi wurde das Oberhaupt der Goju-Kai Organisation und gehörte zu den Initiatoren der Bildung der gesamtjapanischen Karate-Föderation im Jahre 1964. Zusammen mit Masatoshi Nakayama ist er für die stufenweise Einführung der sportlichen Wettkampf- Regeln verantwortlich, wodurch Karate zu einer Wettkampf-Sportart wurde.
In Japan entstanden unterdessen weitere Schulen und Stilrichtungen. So schufen beispielsweise MasutatsuOyama das Kyokushin-Kai und Chojiro Tani das Shuko- Kai. Später, nach dem Tod von Gichin Funakoshi, schossen viele weitere, gar unzählige, Karate-Organisationen wie Pilze aus dem Boden. Alle hier aufzuzählen würde den Rahmen bei weitem sprengen. Vertretend für alle anderen sei deshalb lediglich Shotokan Karate International (SKI) von Hirokazu Kanazawa erwähnt.
Gichin (Shoto) Funakoshi starb am 26. April 1957 in Tokio im Alter von 89 Jahren. Ihm haben wir Karatekas ungemein viel zu verdanken. Er wird uns als Vater und Begründer des modernen Karate Do immer in Erinnerung bleiben.
Gigo Funakoshi (1906-1945)
Obwohl Gigo – auch Yoshitaka (es kommt darauf an, wie man die Kanji liest) oder Waka Sensei genannt – bereits früh, im Alter von 39 Jahren, an Tuberkulose starb, hatte der dritte Sohn von Meister Gichin (Shoto) Funakoshi wohl den grössten Einfluss auf das moderne Shotokan Karate Do. Schon im Alter von 7 Jahren wurde bei Gigo Tuberkulose diagnostiziert. Wegen seiner Krankheit war er eigentlich ein schwächliches Kind. Karate Do aber half ihm sein Leiden zu lindern und sein Wohlbefinden zu verbessern. Damit aber nicht genug: Dank seinem unbändigen Willen und seinem unerschütterlichen Einsatz wurde er sogar zu einem der besten Kämpfer seiner Zeit.
Gichin Funakoshi hatte bereits früh den Wert des Budo, des Do, als Weg des Lebens erkannt. Er hatte erkannt, dass wahres Budo bedeutet, das Wesen des Universums anzuerkennen, den Frieden zu bewahren und alle Lebewesen in der Natur zu fördern, zu beschützen und zu pflegen. Der Lebensweg des Budoka, wie auch des Karateka, bedeutet, bis zum Tod zu üben! Budo bedeutet kulturelles Denken! Es bedeutet, die Tradition zu wahren und genau diese Eigenschaften an die eigenen Schüler weiterzugeben.
Vor allem aber erfordert es, sich in Geduld zu üben. Budo bedeutet „das Leben zu meistern“. Gigo war mit Unterstützung seines Vaters und andern Schülern Gichin Funakoshis, wie Takeshi Shimoda und Shigeru Egami, für die Weiterentwicklung des Karate Do und der Karate- Technik verantwortlich. Einem Karate, das sich definitiv von dem Karate das man auf dem übrigen Okinawa praktizierte unterschied, einem Karate das einen komplett andern Charakter hatte.
Gigo fing seine formale Karate-Ausbildung mit 12 Jahren an. Er kam natürlich durch seinen Vater schon viel früher mit Karate Do in Kontakt. Im Buch „Karate Do: Mein Weg“ erzählt Gichin Funakoshi wie er Gigo oft zu seinen Trainings bei Anko Azato und Yasutsune Itosu mitnahm. Obwohl Gigo nicht sehr gross war, hatte er doch eine enorme Ausstrahlung von Grösse. Er war ein wirkliches Phänomen der Kampfkunst Karate und erlangte sowohl ein sehr hohes technisches als auch mentales Niveau. Gigo wurde von vielen seiner Zeitgenossen sowohl körperlich als auch technisch als einer der besten Karatekas angesehen. Shigeru Egami hielt ihn sogar für ein Karate-Genie. In seinen Geschichten erzählte Egami wie Gigo am Makiwara arbeitete. Er übte oft in Kiba-Dachi und beim Schlagen und Treten legte er immer seinen gesamten Körper in die Schläge hinein. Gigo schlug so hart, dass die Makiwaras oft repariert werden mussten. Es gibt natürlich viele Erzählungen und Überlieferungen und heute ist es sicher schwierig, Wahrheit von Legende zu unterscheiden. Eines aber ist sicher: Gigo Funakoshi war seiner Zeit voraus. Mehr noch als sein Vater war Gigo der technische Schöpfer des modernen Shotokan Karate Do. Das ursprüngliche Okinawa-Te betonte mehr die Verwendung und Entwicklung der oberen Gliedmassen und des Oberkörpers, hohe Stellungen und vor allem kleine Bewegungen. Gigo veränderte im Zeitgeist des zweiten Weltkrieges das Karate Do in tiefe, kraftbetonte Stellungen wie Kiba-Dachi, Fudo-Dachi und er legte besonderen Wert auf starke Fusstechniken und den Einsatz der Hüften bei jeder Technik. Gigo entwickelte unter anderem Mawashi-Geri, Yoko-Geri-Kekomi, Yoko-Geri-Keage, Ura-Mawashi-Geri and Fumi-Komi. Taiji Kase, ein Schüler von Gichin Funakoshi und der Meisterschüler von Gigo, entwickelte später den Ushiro-Geri. Gigo achtete immer darauf, dass bei den Fusstechniken das Knie vor dem Treten so hoch wie möglich angezogen wurde, viel höher als bei anderen Stilrichtungen, damit die Beintechnik mit mehr Kraft und Geschwindigkeit aus geführt werden kann. Ein weiterer Punkt war, dass auch bei den Fusstechniken der korrekte Hüfteinsatz speziell geübt wurde. Gigo legte, wie schon gesagt, besonderen Wert auf lange Angriffe mit tiefen Stellungen (Fudo-Dachi) und auf das Üben von Oi-Tsuki und Gyaku-Tsuki. Das Training bei Gigo war sehr anstrengend, denn er erwartete von seinen Schülern, dass sie ins Training doppelt soviel Energie einsetzten wie in einer echten Konfrontation mit einem Gegner nötig gewesen wäre. Er wollte sicher gehen, dass seine Schüler auf eine solche Situation optimal vorbereitet sind. Sein Vater stimmte den Änderungen ohne Widerspruch zu, obwohl er, wenn er Training gab, gewisse Details auf andere Weise als seinSohn erklärte.
Gigo wurde von seinen Schülern und Trainingskameraden für sein Können hoch respektiert. Unter Gigos Leitung änderte sich zwischen 1936 und 1945 auch das Kumite-Training. Während sein Vater mehr Wert auf das Kata-Training legte, legte Gigo mehr Wert auf das Kumite-Training. Zuerst entwickelte Gigo das Gohon-Kumite, eine Kampfform die er beim Kendo-Grossmeister Hakudo Nakayama erlernt hatte. Von ihm holte er sich auch viele weitere Inspirationen für die Weiterentwicklung des Shotokan Karate. In der Folge führte Gigo das Kihon-Ippon-Kumite ein, gefolgt vom Jiyu-Ippon- Kumite.
Es war auch die Zeit in der er Ten No Kata Omote und Ten No Kata Ura (mit Partner) und Chi No Kata entwickelte. Ten No Kata wird noch immer geübt, Chi No Kata ist über die Jahre leider verloren gegangen. Er passte Katas aus dem Naha-Te, die Kanryo Higaonna und Chojun Miyagi geschaffen hatten, wie Sanchin, Seienchin, Seisan, Sepai, Kitei und sicher auch andere, den Shotokan-Techniken an, änderte, ersetzte und verfeinerte aber auch gewisse Techniken und Stellungen. 1945 schliesslich, führte Gigo den Freikampf, das Jiyu-Kumite ein. An dieser Entwicklung des Shotokan Karate von 1936 bis 1945 waren insbesondere auch Genshin Hironishi und Shigeru Egami sowie andere Karatekas, die nicht am Krieg teilgenommen hatten, beteiligt.
1946 erschien das Buch „Karate Do-Nyumon“ von Gigo und Gichin Funakoshi. Gigo hatte den technischen Teil erarbeitet, Gichin die Einleitung und den historischen Teil. Jeder weiss, dass die Umstände des 2. Weltkriegs, die harten Lebensumstände verbunden mit einem fast schon selbstzerstörerischen Training, mit ein Grund für Gigos Tod waren. Es ist einfach darüber zu spekulieren, wie sich Karate weiterentwickelt hätte, wenn Gigo nicht so früh gestorben wäre. Jedenfalls nicht so wie es sich nach dem Tod Gigos entwickelt hat. In seinem Buch „The Spirit of Karate“ hat sich insbesondere Shigeru Egami sehr negativ über die Entwicklung des Karate geäussert, darüber, dass sich Karate in eine Richtung entwickelt hat, in der das Gewinnen einer Meisterschaft oder das Erlernen von Kampftechniken wichtiger ist, als Karate Do als Lebensweg zu sehen. Mit Gigo würde die Karate-Welt heute sicherlich ganz anders aussehen.
Es gäbe keine Trennung zwischen Shotokan und Shotokai,Shotokan hätte sich niemals dermassen aufgesplittet in unzählige Verbände und Organisationen, noch wäre das Karate so versportlicht.
Gigo Funakoshi starb 39-jährig am 24. November 1945 in Tokio an den Folgen seiner langjährigen Tuberkulosekrankheit. Mit ihm starb der wohl grösste Meister in der Geschichtees Shotokan Karate Do.